Früher Kindesverlust: Umgang mit Folge- & Geschwisterkindern

Interview
Was sollten Eltern im Umgang mit Geschwisterkindern beachten, wenn sie von einem frühen Kindesverlust betroffen sind? Und was kann sie sowie die Kinder unterstützen, innerhalb der Familie mit einem solchen Verlust gut umzugehen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich dieses Interview mit Ines Fuchs, einer Diplompsychologin, approbierten Psychotherapeutin und Fachbuchautorin.
Hinweis: Im Laufe dieses Interviews werden Mütter oder Schwangere oft in der weiblichen Form angesprochen. Trotzdem sollen explizit alle Personen und Eltern, unabhängig von ihren Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten, angesprochen werden.

Es gibt Eltern, die schon ein oder mehrere Kinder haben, bevor dann so ein früher Kindesverlust auftritt. Welche Herausforderungen können hier bestehen? Wie können Eltern diesen Verlust möglichst achtsam und gut gegenüber den Geschwisterkindern kommunizieren?

Ich finde, das ist sehr abhängig vom Alter des Kindes. Also, wenn die Schwangerschaft kommuniziert wurde, dann muss natürlich auch der Verlust des Kindes kommuniziert werden. Und da würde ich mich so vom Differenzierungsgrad her an der Ankündigung der Schwangerschaft orientieren. Ein kleines Kind, das weiß, dass die Mama ein Baby im Bauch hatte, benötigt natürlich eine andere Erklärung als ein Teenie. Vielleicht so zur Einordnung: Bis zum 4. Lebensjahr denken Kinder oft noch, dass Tote schlafen. Und so ab 12 bis 13 Jahren verstehen Kinder den Tod auch so ungefähr wie wir. Ich würde das Thema aber – also ich kann verstehen, dass die Leute unsicher sind – nicht umschiffen. Weil Kinder merken, wenn es uns schlecht geht, die haben da sehr gute Antennen. Und da ist es denke ich wichtig, sich auf die eigene Intuition zu verlassen und mit den Kindern da kindgerecht – natürlich nicht ausladend und überfordernd – über diese Traurigkeit zu sprechen. Es kann jetzt auch bei einem Kleinkind sowas sein, wenn es mich weinend vorfindet: „Ja, die Mama ist traurig, aber es wird bald besser sein. Es ist aber nicht wegen dir, denn ich habe dich sehr lieb.” Weil Kinder das oft auf sich beziehen. Gerade bei pränatalen Verlusten gibt es auch die Möglichkeit, das machen auch viele, dass die Geschwisterkinder sich auch von den verstorbenen Kindern verabschieden können. Und dann lernen die Kinder ja auch letzten Endes, dass der Tod zum Leben gehört. Generell gehen auch kleine Kinder oft sehr natürlich und mit wenig Berührungsängsten damit um.

Wieso ist es denn wichtig, dass Eltern das kommunizieren, anstatt das im Raum stehen zu lassen bzw. nicht mehr zu adressieren?

Also ich denke, die Belastung ist ja da. Und wie gesagt, die Kinder haben feine Antennen, die merken das sowieso letzten Endes. Und wenn die einfach das Gefühl haben, irgendwas stimmt nicht, die Mama und der Papa sind irgendwie vielleicht böse auf mich – man ist ja vielleicht auch gereizter, weil das ja eine sehr belastende Situation ist, zum Familienalltag noch dazu. Es ist einfach wichtig, das Kind auch ein Stück weit aufzufangen und abzuholen, wo es ist. Und das schon auch zu erklären, obwohl es auch total schwierig ist, das in Worte zu fassen.

Also ist es gar nicht so wichtig, wie es gesagt wird, sondern viel wichtiger, dass es überhaupt adressiert wird?

Ja, also wie gesagt, ich würde auch versuchen, es nicht total überfordernd zu machen. Man kennt ja auch sein eigenes Kind und erklärt sonst Sachen, die vielleicht schwierig sind. Ich glaube, man muss schon über seinen Schatten springen und das überhaupt mal in Angriff nehmen.

Was wäre denn ein absolutes Negativbeispiel?

Es überhaupt nicht zu thematisieren. Sehr viel Weinen, sehr gereizt sein dem Kind gegenüber oder vielleicht auch einem kleinen Kind das sehr ausführlich zu erklären, so dass es überfordert ist. Das wäre eher ungünstig.

Andersherum gibt es Eltern, die nach ein oder mehreren Verlusten dann das erste Mal ein gesundes, lebendes Folgekind bekommen. Welche Herausforderungen können hier bestehen und wie können Eltern besonders gut damit umgehen?

Grundsätzlich ist es so, dass wenn der Kinderwunsch sich dann endlich erfüllt, nochmal ein anderes Level an Heilung möglich ist. Es ist erstmal etwas ganz tolles, wo es Leuten auch erstmal wieder richtig besser gehen kann. Aber es kommt auch oft zu einer Reaktivierung der Trauer, besonders, wenn der Verlust vorher noch nicht so lange her war oder noch nicht so gut verarbeitet wurde. Ich würde auch sagen, dass es eher für spätere Schwangerschaftsverluste gilt als für frühere. Manchmal haben wir vielleicht auch überhöhte Erwartungen, wie toll und wunderschön das jetzt sein muss, wenn ich da sehr, sehr lange und hart darum gekämpft habe. Und es war vielleicht auch eine angstbesetzte Schwangerschaft – auf Grundlage des Verlustes – und das kann auch einfach sehr an den eigenen Kräften zehren und zu einer großen Erschöpfung führen. Das sollte man im Hinterkopf haben, einfach noch ein bisschen netter zu sich selbst zu sein und einfach (auch im Alltag) Unterstützung suchen, z.B. die Großeltern. Was es auch geben kann, ist ein Vulnerable Child Syndrome (deutsch: verletzliches Kindessyndrom): Das bedeutet, dass ich das Kind am Anfang sehr überbehüte und ängstlich um dessen Gesundheit bin. Weil ich eben die Erfahrung gemacht habe, dass alles ganz schnell anders sein kann. Und das wollen wir langfristig auch nicht, weil sich das Kind entfalten, entwickeln und auch selbstständig werden soll.

Wie können Eltern das bei sich selbst erfragen, ob sie eher zu Helikopter-Eltern neigen?

Ich glaube, die Leute wissen das schon ganz gut und sind auch nicht unbedingt immer super zufrieden damit. Die Frage ist so ein bisschen: Finde ich einen Umgang damit? Ich würde das jetzt auch erstmal als „normal” einstufen, wenn man nach so einem Erlebnis ängstlicher ist. Wenn man jetzt nicht total sich, die Familie und das Kind einschränkt, ist das auch erstmal okay. Ich denke, mit der Zeit kommt Ruhe und Vertrauen rein – aber wenn es jetzt ganz, ganz krass ist, würde ich mir auch nochmal Hilfe suchen, um es zu reflektieren und um besser damit umgehen zu können.

Was für Hilfe bzw. Unterstützungsmöglichkeiten gibt es hierfür?

Also eigentlich Beratungsstellen oder erstmal die hausärztliche Praxis. Oder sich auch in einer psychotherapeutischen Sprechstunde vorstellen. Oder eine Erziehungsberatungsstelle wäre ein ganz guter Ansprechpartner an der Stelle.

Ist diese Übersensibilität bzw. Überbeschützlichkeit gegenüber dem Folgekind die größte Herausforderung? Gibt es noch weitere Symptome, die sich daraus ergeben können?

Vielleicht eher noch die angesprochene Trauer. Das ist was, was viele doch auch berichten, dass ihnen dann so ein bisschen vor Augen geführt wird: Was habe ich vielleicht jetzt mit meinem anderen Kind nicht erlebt? Und viele Frauen haben sich auch gerade in der Schwangerschaft sehr zusammengerissen und es irgendwie rumgekriegt. Irgendwann sucht sich die Trauer halt auch ihren Raum. Also man kann sie nicht ewig nach hinten schieben. Das Unbearbeitete kommt dann irgendwann eventuell nochmal raus, was gar nicht heißt, dass es nicht handhabbar ist, aber darauf sollte man sich einstellen, wenn ich nach einem späten Verlust schnell wieder schwanger geworden bin.

Also ist es wichtig, die Folgeschwangerschaft und das Folgekind nicht als „Ausgleich” für die Trauer zu nehmen, sondern der Trauer zusätzlich zur neuen Glückserfahrung einen eigenen Platz zu geben?

Genau, ganz richtig. Und das besteht auch beides nebeneinander. Das ist manchmal auch ein Problem, wenn von außen dann auch die Erwartung ist: So, jetzt ist ja alles gut. Also es ist dann natürlich auch wunderschön, dass das Kind da ist, aber ein Kind ersetzt ja auch nicht das andere. Und genau, die Trauer besteht und die Erinnerung an das Kind, das muss auch nicht für immer Schmerzen, sondern kann auch mit schön warmen Gefühlen verbunden sein. Aber natürlich auch irgendwo mit einer Traurigkeit. Und gleichzeitig auch mit einer großen Freude über das neue Kind.

Hast du Tipps oder Empfehlungen für Sterneneltern, wie sie mit dem Kindesverlust und der Trauer gegenüber ihren Kindern gut umgehen können? Bzw. wie sie diesen Trauerprozess gut in ihren Alltag und das Familienleben integrieren können?

Also, wenn ich das Gefühl habe, das ist alles super viel – mit kleinen Kindern ist es meistens sehr viel (lacht). Wenn dann noch Aspekte wie Trauer dazukommen, wird es schon sehr anstrengend und ich würde empfehlen, bei alltäglichen Dingen Unterstützung zu suchen. Das muss jetzt nicht gleich etwas Psychologisches sein, sondern einfach sowas wie Großeltern, Geschwister, Freund:innen, Nachbar:innen. Wen kann ich aktivieren, wer bietet sich vielleicht an? Bei so Dingen wie Haushalt, oder mal was zu kochen (vielleicht auch gerade im Wochenbett) oder auch mal die Kinder zu nehmen, sodass ich der Trauer auch Raum geben kann. Die meisten Eltern wollen sich auch vor den Kindern nicht total gehen lassen und weinen, sondern reißen sich zusammen. Wenn ich weiß, mein Kind ist jetzt erstmal zwei Stunden auf dem Spielplatz, kann ich mich der Trauer zuwenden und kann danach wieder präsent für mein lebendes Kind sein.

Ist es hilfreich, andere Nahestehende oder Verwandte auch mit einzubeziehen, was die Trauer angeht?

Also, das kommt darauf an, wie nah ich der Person bin und ob das irgendwie passt. Zum Beispiel auch gemeinsam eine Kerze anzuzünden, zum Essen einzuladen am Jahrestag, falls es ein Grab gibt ein Grabbesuch. Oder vielleicht gemeinsam einen schönen Ausflug zu machen und sich gemeinsam an die Zeit zu erinnern.

Gibt es noch weitere Beispiele, die du nennen kannst, wie die Familie und Kinder gemeinsam aktiv einen Raum für die Trauer schaffen können?

Es kommt drauf an, was ist gewünscht? Wenn das ein sehr früher Verlust war, hat das vielleicht für mich nicht so die Bedeutung oder ich möchte das auch nicht oder habe das mit den Kindern nicht thematisiert, weil es so früh war und sie auch nichts von der Schwangerschaft wussten. Wenn es etwas später war, kann man wie gesagt auch am Geburtstag an das Kind denken oder einen Geburtstagskuchen essen. Eventuell spielt das auch eher für mich als Partner:in eine Rolle, als jetzt mit den Kindern. Ich würde das nur nicht so als Familiengeheimnis hüten, wenn es ein sehr spät verstorbenes Kind ist. Sondern, dass man das altersentsprechend auch erzählt, dass es ein Geschwisterchen gibt. Dass es nicht so ein Geheimnis ist und das kommt irgendwann raus und hat einen Tabu-Charakter. Da finde ich einen offenen Umgang günstiger.

Gibt es generell noch etwas, was du Familien, die so einen Verlust erlebt haben und noch andere Kinder haben, allgemein mit auf den Weg geben möchtest?

Wenn ich das Gefühl habe, auch meinem Kind geht es nicht so gut, sollte man das im Blick haben. Falls sie durch den Verlust oder durch die Trauer der Eltern belastet sind. Ich würde gucken: Gibt es ein Zurückfallen in frühere Entwicklungsstufen, z.B. Einnässen, Aggression, Rückzug. Das kann über eine Zeit mal sein, falls es aber länger anhält und ich mich unsicher fühle, würde ich mich an die kinderärztliche Praxis oder an eine Erziehungsberatungsstelle wenden. Wenn ich das Gefühl habe, ich bekomme es nicht hin. Aber ganz viel bekommt man auch hin – es ist einfach eine schwierige Zeit. Ich denke, mit gemeinsamer Unterstützung kommen da viele auch ganz gut durch.

Es ist also eine Herausforderung, an der man selbst als Familie auch wachsen kann. Sollte man das Gefühl haben, überfordert zu sein, gibt es Unterstützungsmöglichkeiten, an die man sich wenden kann.

Wenn dich dieses Thema zur Zeit beschäftigt, dann kann es hilfreich für dich sein, dir die weiteren Interviews oder Beiträge zu diesem Thema hier in der Mediathek anzusehen. Ansonsten stehen dir auch die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen jederzeit – auf Wunsch auch anonym – gerne zur Verfügung.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.
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